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14.12.2010 - 24.2.2011 Enrico Leimer "Sichtung"


„Eine Sichtung“

Mehr als anderthalb Jahrzehnte sind seit der Aufnahme seiner Malerlehre vergangen, eine Zeitspanne, in der aus einem Anstreicher ein Kunstmaler, aus einem Studenten für Sozialwesen ein Sozialberater und Hospitant für Kinder in sozial gefährdeten Familien wurde, eine Zeitspanne, in der sich Leimer durch das vierjährige Studium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena neue Horizonte erschloß; sowohl philosophischer als auch kunst- und kulturgeschichtlicher Natur. Und dabei ständig eigeninitiierte Weiterbildungen – mal in den Niederlanden, mal in Portugal oder durch die Teilnahme an Workshops deutschlandweit. 17 Jahre, in denen ein Kind zum Erwachsenen reift oder ein Erwachsener zum allseitig gebildeten vierfachen Familienvater werden kann.

„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ – diese Kästner-Worte auf den Lippen hat sich Leimer dem Leben gestellt. Und damit einer harten selbstauferlegten Schule – Leimer ist ihr nicht ausgewichen, hat Rückschläge in Kauf genommen, hat sich auch durch Irrwege nicht entmutigen lassen.

„Solange ich nicht das Gegenteil erlebt habe“, sagt er in einem 2004er Interview mit dem „Le Combieu“-Kulturmagazin, „gehe ich davon aus, mit diesem einen Leben auskommen zu müssen. Und ein Jahr mit seinen 365 Tagen ist verflucht schnell ´rum. Irgendwann, wenn es mal nicht mehr so geht wie jetzt, wenn der Körper seinen Tribut fordert, möchte ich nicht dasitzen und der vertrödelten Zeit und womöglich einem vertrödelten Leben nachweinen. Und ich möchte konkret wissen, wo meine Grenzen sind, da dulde ich nichts verwaschenes. Also lautet Programmpunkt 1: Grenzerfahrungen machen, Erkundung der persönlichen Kompetenz, was geht alles? Mein alter Freund Voltaire hat es mal auf den Punkt gebracht: ›Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun!‹“ Leimer ist erst 34, hat den Rubikon noch vor sich. Noch zu jung, um Zwischenbilanz zu ziehen? Mitnichten. „Zwischenbilanzen gehören zu meinem Leben“, sagt er, „sie laufen nebenher, ermöglichen mir die Navigation, weiter nichts. Ich halte es für ineffektiv, in Selbstbetrachtungen vor mich hinzudämmern, dafür bin ich zu sehr Praktiker.“

Und Praktiker ist er in der Tat. Ich habe ihn 2005 bei den Vorarbeiten zum Künstlersymposium auf der Binderburg bei Jena angetroffen. Mit einer 2,5 PS starken Kettensäge in der Hand rückte er einem gewaltigen Eichenstamm zu Leibe – nichts für schwache Nerven. Und doch entsteht innerhalb von 14 Tagen ein fast unglaublich filigranes Ergebnis. Da ist er mal wieder auf der Suche nach Grenzerfahrungen, die Auseinandersetzung mit dem Werkstoff Holz ist bei ihm noch jung. 2003 entstanden die ersten Versuche. Mehr noch als bei der Malerei sucht Leimer hier die Abstraktion, doch die diametrale Arbeitsweise – hier wird ab- und nicht aufgetragen, hier spielt das dreidimensionale Vorstellungsvermögen die entscheidende, und die körperliche Kondition eine nicht zu unterschätzende Rolle – erzwingt andere, konkretere Konzepte. „Es ist ein vollkommen anderer Schöpfungsprozeß“, berichtet er dann auch, „hier erschließen sich für mich als Grafiker tatsächlich neue Welten!“

Kurze Zeit später treffe ich ihn bei den Vorarbeiten zum ersten „Brim Brom Brorium“ im Brandenburger Altrosenthal. Hier geht es um ganz nüchterne Fakten: Das als Atelier vorgesehene Glashaus ist marode, die Nutzung erscheint unter sicherheitsrelevanten Gesichtspunkten problematisch. Da ist knallharte Handwerkerarbeit angesagt, aber Leimer sieht das gelassen – er hat das Arbeiten gelernt. Von der Pieke auf, wie man so schön sagt. Das ist das Überzeugende an seinem Konzept: Neue Welten brauchen feste Fundamente. Ja, neue Welten sind das, was Leimer immer wieder fasziniert. Fast scheint es so, als könne es nicht genug davon geben. In seiner kreativen Alchimistenküche in der Jenaer Lutherstraße werde ich bei jedem neuen Besuch mit weiteren Vorstößen konfrontiert. Auf seinem Werkstattradio entdecke ich aus Draht geformte Figuren. Das sind zunächst mal Studien, erfahre ich, hier plant er eine Zusammenarbeit mit einem Schmied. Nun geht es also auch in Richtung Metall. Und wie gewohnt wird der Künstler nicht eher zur Ruhe kommen, als bis das Ergebnis steht und zwar so, wie er sich das vorstellt.


Als Außenstehender stellt man sich irgendwann die Frage: Wie kriegt ein einzelner Mann das alles unter einen Hut? „Ich habe einen exakt konzipierten Wochenplan“, verrät er mir. „Das wichtigste ist mir meine Familie, das steht erst mal gar nicht zur Disposition.“ Das ist für ihn Zeitfenster Numero 1.

In Zeitfenster Numero Zwei geht es für Leimer um die Aufteilung des temporalen Restkontingents – der Zeit, die er braucht, das Brot für die Familie zu erwirtschaften, und der Zeit, die dann noch übrig ist, anderweitig kreativ zu sein, neue Konzepte zu entwickeln, Kontakte zu knüpfen und zu halten.

„Der Tag könnte 48 Stunden haben“, versichert er mir augenzwinkernd, und, ernster werdend: „aber man hat ja Freunde und Kollegen. Das Delegieren von Arbeitsaufgaben habe ich lernen müssen. Auf diese Weise ist wie nebenbei ein Netzwerk entstanden. Und das ermöglicht Dinge, die ich als Einzelner gar nicht schaffen könnte.“

Die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern ist Leimer wichtig. Kunst ist für ihn Leben und nicht der Ausdruck eines Ich-orientierten Profilierungsbedürfnisses. So eröffnet er 2004 sein „Offenes Atelier“, schafft Platz und Möglichkeiten für andere Kreative und solche, die es noch werden wollen.

Die Rolle des Impresario im Hintergrund liegt Leimer. In den vielen Pressenotizen über seine Aktivitäten taucht seine Person meist nur nebenbei auf. Auf Gruppenphotos findet man ihn im Hintergrund oder am äußersten Rand, oftmals überhaupt nicht. Manchmal geht aus den Pressetexten dann hervor, daß seine Rolle die maßgebliche war. Manchmal auch nicht, Leimer ist es „wurscht“. Zu diesem Fakt möchte er eigentlich gar nichts sagen, und ich merke ihm an, daß ihn das Thema völlig kalt läßt.

Ich war einmal in Leimers Offenem Atelier zugegen, als sich bei ihm regelmäßig ein Literatur- Gesprächskreis traf:

Einer der beiden Haupträume ist mit Stühlen vollgestellt, man arrangiert sich aber dann doch lieber um den kleinen Clubtisch in der Ecke, über dem ein Punktstrahler hängt und von der Decke aus die rubinroten Lichtkristalle der Weingläser auf der Tischplatte tanzen läßt. Die beiden alten DDR-Sessel sind am begehrtesten, sie sind sofort besetzt, dann folgt der Jugenstil- Diagonallehnstuhl und schließlich die Batterie Holzstühle, jeder ein Unikat – so, wie die vielen Bilder aus Leimers Manufaktur, die man an den Wänden bewundern kann. Hier ist garantiert alles einmalig. Das Atelier selbst im Halbdunkel, Im Hintergrund auf der Staffelei schimmert, sanft von einer blakenden Kerze erhellt, ein halbfertiges Ölbild. Buchbesprechung, für Leimer mal wieder Horizonterweiterung. Dann läßt er die Arbeit ruhen, hört zu, wenn es um Neues geht und ergänzt, was er für ergänzenswert hält. Nebenbei skizziert er ein paar Eindrücke der Runde in sein Notizbuch. Das wird vielleicht später Thema eines neuen Bildes, vielleicht sogar ein neuer Zyklus...

 

Leimers graphisches Gesamtschaffen ist stilistisch nicht pauschal zu klassifizieren, dafür experimentiert er zu viel. Was es vereint, ist die Liebe seines Schöpfers zum Leben, zur Lebendigkeit und – nicht zuletzt – zur spielerischen Abstraktion. Leimer führt die Objekte zur vollständigen Auflösung, fügt sie willkürlich zusammen. Kubistische Reminiszenzen tauchen kurz auf und verschwinden unter dem linienbetonten Abstraktionskonzept. Bei Leimers Ölbildern ist ein stark impressionistisch geprägtes Farbschema augenscheinlich; helle, reine Töne bilden pointierte Gegensätze zu dunklen Flächenkomplexen. Bisweilen verwendet er eine strukturgebende Kratztechnik, deren Ergebnisse an die Holzfarbdrucke HAP Grieshabers erinnern. Die Bilder stecken voller Dynamik, die Linienführung durchbricht oftmals den abstrakten Darstellungsraum, inspiriert den Betrachter zu individueller Weiterführung der Leimerschen Gedanken. Sein Tenor, spricht man ihn auf die Thematik seiner Bilder an, ist stets: „Ja, man kann darin dies und jenes sehen, aber es gibt da auch ganz andere Interpretationen!“ Der Künstler tritt bewußt hinter seine Bilder zurück und dies nimmt ihnen die Schwere intellektueller Blockhaftigkeit. Er gibt während des Schöpfungsprozesses dem Zufall die Chance, neue Elemente hervorzubringen, und er überträgt dieses Schema sogar auf den Betrachter, provoziert unvorhersehbare Deutungen, zwingt den Betrachter zum Verlassen der Konsumentenposition, indem er ihn mit einem lakonischen „O.T.“ und der dazugehörigen Kreation allein läßt. Allerdings behält sich Leimer das Recht einer letzten künstlerischen Instanz vor, eine Sicherungsmaßnahme, um nicht in die Beliebigkeit abzugleiten. Oft schon habe ich bei ihm Bilder entdeckt, die er wieder abgeschliffen oder übermalt hat.

Wer Marcel Aymé’s „Die gute Malerei“ (La bonne peinture) kennt, weiß, wie es gemeint ist, wenn ich von einem Sättigungsvermögen der Kunst spreche. Nur ist der Nährwert von Leimers Werken weniger für den Leib als für die Seele bestimmt, und so erzeugen viele seiner Bilder ein ungemein wohliges Gefühl innerer Harmonie und Wärme, verstrahlen eine derart positive Energie, daß man sie getrost als transzendental-metaphysisches Festessen bezeichnen könnte. Und dies ist in einer Zeit kultureller und ethischer Verwahrlosung mitunter mehr wert als ein voller Magen.


Jens S.C. Körting (Juli 2007)

Video der Vernissage ermöglicht durch TiPs Video Produktion
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